Begegnungsfläche Schlossplatz Schwetzingen - vom Unmöglichen zum bundesweiten Vorbild
Schlossplatz
68723 Schwetzingen
Stadt Schwetzingen, Stabstelle Städtebau, Architektur, Verkehrsentwicklung und Bauleitplanung, Stadtbaumeister Mathias Welle, Ideengeber, Projektleiter | Mann Landschaftsarchitektur, Tobias Mann, Freier Landschaftsarchitekt bdla, Fulda
Große Kreisstadt Schwetzingen, vertreten durch Oberbürgermeister Dr. René Pöltl
2011 | 2014
Verkehrsplanung: Wolfgang Schröder, BS Ingenieure, Ludwigsburg
Lichtplanung: Uwe Knappschneider, Licht Raum Stadt, Wuppertal
Ein Baustellenbeauftragter fungierte während des Umbaus als Ansprechpartner vor Ort für Gastronomen, Eigentümer und Bewohner. Ein Baustellenmaskottchen half dabei Berührungsängste zu überwinden. Facebook und Twitter wurden für das Baustellenmarketing genutzt.
Ausgangslage
Die Große Kreisstadt Schwetzingen ist Mittelzentrum im hochverdichteten Kernraum der Metropolregion Rhein-Neckar. Ihr Einzugsbereich umfasst mehr als 110.000 Einwohner. Die verkehrliche Einbindung innerhalb der Metropolregion als auch überregional ist hervorragend.
Projektanlass
Vor dem Hintergrund der Frage der Positionierung Schwetzingens im regionalen Wettbewerb der Kommunen sowie der im Rahmen des Stadtsanierungsprozesses angestoßenen Auseinandersetzung mit den vorhandenen Stadtstrukturen erkannten die kommunalen Akteure die Bedeutung ihres städtebaulich einzigartigen historischen Erbes: eine barocke Gesamtanlage, aufgespannt an der Sichtachse Königstuhl-Kalmit, bestehend aus Schloss, Schlossgarten und barocker Stadtanlage – von Niveau eines Welterbes (bestätigt durch Antragsgewährung auf Aufnahme in die UNESCO-Welterbeliste in den Jahren 2006 und 2010/2011).
Zur nachhaltigen Entwicklung der kommunalen Teile der Gesamtanlage wurde zunächst ein Sanierungsgebiet ausgewiesen. Dem folgte ein Rahmenplan mit Gestaltungssatzung über mehr als 70 ha Innenstadt zur Sicherung des Ensembles wie auch des innerstädtischen Umfeldes. Parallel hierzu begann die Aufwertung innerstädtischer öffentlicher Räume. Für die Barockachse lobte die Stadt den städtebaulichen Realisierungswettbewerb "Barockachse Carl-Theodor-Straße - Schlossplatz / Bahnhofsanlage" aus. Der Siegerentwurf mit der Idee, Gestaltungselemente des Gartens aufzugreifen und in die Gestaltung des Stadtraumes zu übertragen – eine viel diskutierte Idee – wurde zur Realisierung beschlossen. 2001 bis 2004 erfolgte die Umgestaltung der Abschnitte Bahnhofsanlage und Carl-Theodor-Straße. Daran anschließend sollte der Schlossplatz, das Herzstück der Stadt, das Treffpunkt und Aufenthaltsort aller Generationen aus allen gesellschaftlichen Schichten ist und die Funktion eines Bindeglieds zwischen Stadt und Schloss hat, umgestaltet werden.
Projekt
Die Gestaltung des 10.000 Quadratmeter großen Schlossplatzes unterlag die letzten 40 Jahre den Prinzipien einer verkehrsgerechten Stadt mit Trennung der einzelnen Verkehrsteilnehmer. Mit der B 36, die den Platz in drei Teile zerschnitt, hatte er bei mehr als 13.000 Fahrzeugen pro Tag sowie 400 Bussen des ÖPNV den Charakter eines Platzraumes verloren. Ihn wieder zum historischen Platzraum von hoher Aufenthaltsqualität zu machen, schien vielen schier undenkbar.
Der Bau der Umgehungsstraße B 535 im Jahr 2009 machte die Vision, dieses Herzstück der Stadt den Bürgern und den fast 700.000 jährlichen Tagestouristen zurückzugeben zu einem Gestalt annehmendem Projekt. Die Herausnahme der von Durchgangsverkehren überlasteten B 36 eröffnete der Stadt ungeahnte Möglichkeiten zur Neugestaltung – wie: Wegfall von Fahrbahnmarkierungen und Signalanlagen sowie eine komplett neue Gestaltungs- und Verkehrskonzeption auf einer alle Nutzer gleichberechtigt behandelnden Bewegungs- und Begegnungsfläche.
Die Erschließungsfunktion des Platzes sollte beibehalten und dennoch vor der barocken Kulisse aus dem Schlossplatz ein hochwertig gestalteter Platzraum geschaffen werden, der ohne weitere Verkehrsregelungshilfen und ohne Schilderwälder funktionieren würde. Schnell wurde jedoch deutlich, dass die bislang gelebte Bevorzugung des motorisierten Individualverkehrs und eine Gesetzeslage, die auf die sorgsame Trennung der verschiedenen Verkehrsteilnehmer ausgelegt ist, Hindernisse waren, die vielen – Beobachter wie Beteiligte – zunächst für unüberwindbar erschienen.
Der geplanten Begegnungsfläche stand vor allem entgegen, dass die erforderliche Ausweisung zum verkehrsberuhigten Bereich mit Geschwindigkeitsbegrenzung auf 7 km/h nur bei einem täglichen Verkehrsaufkommen von maximal 3.000 Fahrzeugen zulässig ist. Mit der neuen Umgehungsstraße und der Herabstufung der B 36 zu einer innerörtlichen Straße konnte zwar eine Reduktion auf ca. 8.500 Fahrzeuge pro Tag prognostiziert werden, doch diese Zahl lag noch immer weit entfernt von der gesetzlich zulässigen für die benötigte Ausweisung. Alle anderen, rechtlich problemlos möglichen Geschwindigkeitsbegrenzungen hätten wieder den geregelten Schutz der Fußgänger mit Anlage von Fußgängerquerungshilfen und entsprechendem Schilderwald nach sich gezogen – eine an dieser Stelle städtebaulich nicht mehr gewollte Lösung.
Unter Bezugnahme auf das inzwischen im lokalen Bewusstsein verankerte Wissen um die Bedeutung der barocken Gesamtanlage für die Zukunftsfähigkeit der Stadt gelang es dem Stadtbaumeister – im Schulterschluss mit seinem Oberbürgermeister – die politischen Vertreter der Schwetzinger Bürgerschaft davon zu überzeugen, dass auf dem Schlossplatz allein durch die geplante Umgestaltung Gegebenheiten erschaffen würden, die aus sich heraus die Abbremsung des fließenden Verkehrs auf Schrittgeschwindigkeit bewirken und zu einer völlig neuen Wahrnehmung des Platzraumes – weit weg vom Straßencharakter – führen würden.
Der Gemeinderat beschloss daraufhin eine farbig einheitlich durchgängige, fast niveaugleiche Gestaltung aus hellen Granitpflasterbelägen sowie aus hellen Granitbetonbelägen für die Fahrbahnoberflächen. Zugleich beschloss er zugunsten eines großzügigen Entrees einen verkehrshemmenden verschwenk der Fahrbahn vor dem Schlosszugang sowie die deutliche Reduktion der Fahrbahnbreiten.
Und tatsächlich bestätigte die 2011 eingeweihte Umgestaltung die Voraussagen der Fachplaner: der motorisierte Platzbenutzer stoppt, sobald er "die Bühne des barocken Platzraumes betritt", um sich – anstatt gewohnheitsmäßig gedankenlos einer dunklen Asphaltdecke zu folgen – zur Weiterfahrt auf der parkanlagenartig hellen, alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigend organisierten und gestalteten Platzfläche neu zu orientieren. Es fehlte jedoch noch immer die rechtliche Legitimation für die allein durch die hochwertige Umgestaltung des städtebaulichen Raumes erreichte Wirklichkeit.
Der Stadtbaumeister blieb – auch hier mit Unterstützung seines Oberbürgermeisters – weiterhin beharrlich und stellte bei der Mobilen Verkehrskommission (MVK) des Landes Baden-Württemberg zur verkehrlichen Entsprechung der stadtfunktionalen Bedeutung des Platzraumes und der erreichten besonderen städtebaulichen Gestalt des Schlossplatzes einen Antrag auf Zulassung zum Modellversuch "Verkehrsberuhigter Bereich Schlossplatz" mit Erprobung der Begrenzung auf Schrittgeschwindigkeit.
In der fast dreijährigen Laufzeit lieferte der Modellversuch den Beweis für die These der Stadt, die sie so hartnäckig wie mutig verfolgt und realisiert hatte: dass das Verhalten der Verkehrsteilnehmer wesentlich beeinflussbar ist durch die anzutreffende städtebauliche Gestaltqualität. Schwetzingen erreichte – trotz aller Widerstände zuvor – Platz 1 bei der Akzeptanz der Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit. Am Ende des Modellversuchs erhielt die Stadt 2014 das erwünschte Einvernehmen des Ministeriums für Verkehr und Infrastruktur zur unbefristeten Anordnung der Schrittgeschwindigkeit.
Die Beispielhaftigkeit des Projektes bewirkte die Aufnahme und Veröffentlichung Schwetzingens im ExWoSt-Forschungsprojekt des Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) "Innerstädtische öffentliche Räume in Klein- und Mittelstädten".
2016 wurde der Schlossplatz mit dem 1. Staatspreis Baukultur Baden-Württemberg, Kategorie „Öffentliche Räume und Freiräume“ ausgezeichnet.
Kosten
Die Investitionskosten von insgesamt ca. sechs Millionen Euro beliefen, wurden aus Mitteln der Städtebauförderung (Städtebauliche Sanierung), kommunalen Eigenmitteln und dem Konjunkturprogramm II finanziert.
Erreichtes
Die gewünschte Entschleunigung wurde erreicht und die früheren Nutzungskonflikte zwischen Verkehr, Aufenthalt und Gastronomie aufgelöst. Auf Grund der erreichten Verdrängung reiner Durchgangsverkehre fahren nun nur noch ca. 7.500 Fahrzeuge täglich, darunter 400 Busse, über den Platz. Die Langsamkeit des Fahrens bewirkt einen deutlich gleichmäßigeren und damit viel besseren Verkehrsfluss als zuvor. Die trotz des verbleibenden Verkehrs nun vorhandene Ruhe macht den Platz zum intensiv genutzten innerstädtischen Aufenthaltsort. Mit Reduzierung der Fahrbahnbreiten konnten die Flächen für den Aufenthalt und die Außengastronomie vergrößert werden. Die Gastronomen verzeichnen deutliche Umsatzsteigerungen.
Alle Verkehrsteilnehmer dürfen sich in der Geschwindigkeit eines Flaneurs bewegen und Schauen und Genießen, ohne als Hindernis zu gelten. Das täglich neu erlebbare rücksichtsvolle Miteinander prägt die Nutzer dieses ungewöhnlichen Stadtraumes. Besucher sind zwar zunächst irritiert von der geringen Geschwindigkeit der Fahrzeuge, freuen sich dann aber über die Bewegungsfreiheit und fast geräuschfreie Atmosphäre. Die Bürger sprechen mit Stolz von ihrem neuen Schlossplatz.
Das erreichte Zusammenwachsen der barocken Stadtanlage mit dem barocken Schloss und Schlossgarten macht die unzertrennliche Einheit der Gesamtanlage jetzt für jeden sichtbar, erlebbar, spürbar und tatsächlich begehbar. Der neu gestaltete Schlossplatz vollendet die axial auf das Schloss ausgerichtete barocke Stadtanlage authentisch und unverwechselbar. Sein Beitrag zur Attraktivität - zur Zukunftsfähigkeit - der Stadt ist ein wesentlicher.
Auf Grund der positiven Erfahrungen arbeitet die Stadt verstärkt am Konzept der "Stadt der Plätze und der kurzen Wege". Ziel ist die weitere Stärkung öffentlicher Räume und fußläufiger Wegeverbindungen in der Innenstadt, einschließlich der Schaffung von verkehrsberuhigten Bereichen - vergleichbar dem Schlossplatz. Im Rahmen der ersten landesweiten Maßnahme zur Förderung des Fußverkehrs wurde die Stadt als Modellkommune "Fußverkehrs-Check" ausgewählt.
Verwaltung wie Politik wurden darin bestärkt, dass trotz größter Widerstände und immenser Widrigkeiten eine fachlich fundierte Vision zur gelebten Realität werden kann und Beharrlichkeit, Mut und Überzeugungskraft am Ende die Faktoren der Zukunftsfähigkeit ihrer Stadt sind.