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Architekturgespräche 2020, Teil 1, stellte die Systemfrage und proklamiert die Zusatzdisziplin einer "Architektur des Nichtbauens"
"Wie viele müssen eigentlich das Gleiche tun, bevor es normal wird?" Anja Bierwirth vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie stellte gleich zu Beginn die zentrale Frage. "Kann man überhaupt nachhaltig bauen?" In Deutschland würden noch immer täglich 60 Hektar pro Tag neu besiedelt, obwohl es zur Erfüllung der Klimaschutzziele maximal 30 Hektar sein dürften; noch immer träumten mehr als 60 Prozent der Deutschen vom Einfamilienhaus; noch immer ist der Gebäudesektor für 54 Prozent des Abfallaufkommens verantwortlich; noch immer expandierten die Wohnflächen pro Kopf; noch immer werde Graue Energie im Großmaßstab vernichtet und eine Norm wie das neue Gebäudeenergiegesetz beschlossen, das weder EU- noch Deutschlands Klimazielvorgabe erfüllen helfe. Nüchterne Bestandsaufnahmen also beim ersten Teil der Architekturgespräche 2020.
"Das Prinzip Verantwortung" war die hybride Veranstaltung überschrieben, die von gut 40 Anwesenden im Haus der Architekten in Stuttgart und knapp 100 Interessierten online verfolgt wurde. Moderator Christian Holl, Publizist und Journalist, brachte das Projekt "Schule der Folgenlosigkeit" der Hamburger Hochschule für Bildende Künste und des Museums für Kunst und Gewerbe ins Spiel als Denkmodell für den Berufsstand: Wie sähe Bauen aus, wenn Folgenlosigkeit das neue regulative Ideal wäre?
Beide Architekturdiskutanten zeigten große Skepsis. Die Büros selbst steckten im Spannungsfeld zwischen Verantwortung für Mensch und Umwelt und wirtschaftlichem Funktionieren. Ohne ein Statement des Planers gehe es nicht, aber nachhaltiges Bauen habe keine Chance, so lange die derzeitigen Rahmenbedingungen zementiert seien. Mithin stelle sich sogar die Systemfrage, deutete Professor Ritz Ritzer von bogevischs buero, München/Berlin an. Planen und bauen sei - trotz vieler sinnvoller Best Practice-Programme - nach wie vor ausschließlich auf Wirtschaftlichkeit ausgerichtet und eben nicht auf Nachhaltigkeit.
Moderator Holl nannte "ermutigend, wie viel den Architekten zugetraut wird". Ja, die Architektin und der Architekt trügen Verantwortung, so Bierwirth. Die müsste im Sinne der Nachhaltigkeit eigentlich darin bestehen, zu fragen: "Darf es etwas weniger sein?". Diese Nachhaltigkeit befördernde Frage werde durch die derzeitigen (gesetzlichen) Rahmenbedingungen geradezu bestraft - angefangen bei der Honorarordnung, die Beratung (Phase 0) nicht honoriere, sondern belohne, je mehr das Projekt koste. Auf Bestand abzustellen sei erste Pflicht. Bierwirth schlug - halb ernst - vor, eine neue Fachrichtung "Architektin/Architekt des Nichtbauens" einzuführen.
Verantwortung trage aber maßgeblich auch die Politik, die der Externalisierung der Kosten bis heute nicht Einhalt gebiete, so Bierwirth. "Wir brauchen eine andere Wirtschaftlichkeitsrechnung", fordert auch Ritz Ritzer. Die Planungsbüros litten geradezu unter der "Wirtschaftlichkeitsgeißel". Die Büros müssten in die Lage versetzt werden, mit einer solchen Entscheidung für Nachhaltigkeit weniger unter Wirtschaftlichkeitsdruck zu geraten, sagte Ritz Ritzer. Die Spiegelstriche der To-do-Liste für die politischen Entscheider waren zahlreich - Lebenszyklusbetrachtung, CO²-Bepreisung, geförderte Ökologie, wandelbare Nutzungen ermöglichen, starre Vorgaben flexibilisieren (z.B. Deckenhöhenvorgabe für Wohnen...). Und an die Adresse des eigenen Berufsstandes: Partizipation ("Raus aus dem Elfenbeinturm"), Gebäude als Produkt eines Prozesses betrachten (Evolution), nicht als unveränderbares Kunstwerk mit Copyright, mutiger Position beziehen auch gegenüber Bauherrschaften. Und über allem stand, wie Moderator Holl zusammenfasste: "Mit Bestand anders umgehen als notwendige Voraussetzung."
Am 22. Oktober 2020 findet der zweite Teil der Architekturgespräche 2020 statt: Dann ebenfalls per Livestream mit Kerstin Müller aus dem Baubüro in situ aus Basel sowie Professor Claus Anderhalten von Anderhalten Architekten aus Berlin.
Tel: 0711 / 2196-126
gabriele.renz@akbw.de