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besser wohnenSiedlungskonzepte im deutschen SüdwestenHerausgegeben von Max Stemshorn96 Seiten mit 105 Abbildungen, Wasmuth Verlag, Tübingen 2007, ISBN 978-3-8030-0680-6Bestellung grundsätzlich über den Buchhandel19,80 Euro
Preisfrage: wer hat das gesagt und wann?
"Die frühen Großstädte sind das Grab aller Gesundheit, allen Anstandes, aller Sitte und aller Persönlichkeit, weil sie viel zu groß waren. Sie haben die moderne Masse geschaffen".
Nein, es war nicht Paul Schultze-Naumburg 1929. Nein, auch nicht Mussolini bei der Grundsteinlegung für die neue Stadt Sabaudia 1934.
Tja, jetzt haben Sie die Karibik-Kreuzfahrt leider nicht gewonnen. Sitte und Anstand beschwor ausgerechnet der hiesige Nachkriegs-Moderne-Guru Otl Aicher im Jahr 1947 – da wäre sowieso niemand draufgekommen. Das Zitat findet sich in diesem Buch über Siedlungen im südlichen Württemberg.
Zehn Autoren und Autorinnen beschreiben darin Gartenstädte, Arbeiterkolonien, NS-, Flüchtlings-, und Öko-Siedlungen sowie eigenständige Stadtquartiere zwischen 1910 und heute. Untersuchen wollen sie, aus welchen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ideologischen Motiven die Siedlungen konzipiert wurden. Außerdem wollen sie den architektonischen Qualitäten nachgehen, der Bewohnerakzeptanz im Lauf der Zeiten und ob sich die Nutzbarkeit auch unter den Bedingungen der Gegenwart bewährt – ein richtiges Fazit also, was sich bewährt hat und was nicht.
Diesem anspruchsvollen Ziel fehlt es allerdings teilweise an zeitlicher und kritischer Distanz, zum Beispiel wenn der Tübinger Stadtplaner Andreas Feldtkeller über "sein" Französisches Viertel berichtet. Dennoch sind die Beiträge bei aller Kürze zumeist erfreulich tiefgehend und gut recherchiert.
So wird von der Überbelegung einer Ulmer Arbeitersiedlung berichtet sowie von der nicht gewünschten halboffenen Familienstruktur der Bewohner (also immer noch mit Untermietern oder "Schlafgängern") oder der patriarchalisch-obrigkeitsstaatlichen Kontrolle der Mieter durch Behörden. Auch dass der vielgerühmte Altenhof der Reutlinger Kolonie Gmindersdorf nie als solcher genutzt wurde ist bemerkenswert. Die "SA-Dankopfer-Siedlung" in Neu-Ulm wird mehr als Symbol, denn als praktikables Vorbild für die NS-Zeit selbst enttarnt. Wie in diesen Fällen oft üblich wird ihre architektonische Bewertung aus heutiger Sicht jedoch angesichts der Konzentration auf ihre politischen Implikationen umgangen.
Amüsiert erfährt man von der pseudowissenschaftlich begründeten Kontinuität der Großstadtskepsis in der Nachkriegszeit: dem lichtärmeren Dasein des Städters, insbesondere dem "Mangel an Ultraviolett" und der neu erkannten positiven Wirkung von Bodenstrahlen, die in der Stadt durch Asphalt isoliert wären. Eher selten liest man so einsichtig, dass die Planer der 50er Jahre nur zu wissen glaubten, welche Bedürfnisse die Verplanten besäßen. Naive Irrtümer wurden demnach am Ulmer Eselsberg begangen, wo sich die erwünschte Gemeinschaft und Nachbarschaft nie einstellte.
"Die Nase voll von dieser modernen Architektur" hatte man in den 1980er Jahren und schuf die in vielem vorbildliche und stadträumlich gelungene Siedlung am Sandberg in Biberach an der Riss. Gleichwohl war der Planungsaufwand so intensiv, dass ihre durchgehende Detailqualität nicht mehr als Vorbild für größere Siedlungen mit unterschiedlichen Bauherren und Investoren erachtet wird! Carmen Mundorff berichtet schließlich von der noch unvollendeten Passivhaussiedlung am Oberen Eselsberg in Ulm. Trotz eigener Anwohneraffinität erkennt sie, dass die hier unabdingbare Sonnenausrichtung kaum städtebauliche Konzepte zulässt. Nachbarschaftsförderliche Kommunikationsbereiche sind im öffentlichen Raum nicht vorgesehen, obwohl gelebte Nachbarschaft gerade in der älter werdenden Gesellschaft immer wichtiger wird.
Diese Ulmer Passivhaussiedlung mutet an ihrem Hang aus der Fernsicht tatsächlich an wie die Stuttgarter Weißenhofsiedlung. Da fällt einem wieder ein, dass deren unter vielen Aspekten hinkendes "Gegenmodell" – die traditionalistische Stuttgarter Kochenhofsiedlung – (beide nicht in diesem Buch besprochen) doch tatsächlich ein solches gemeinschaftsorientiertes, öffentliche Platzräume bildendes Siedlungskonzept repräsentiert, wie es in Biberach und bei der Öko-Siedlung Schafbrühl in Tübingen verfolgt wurde. Irgendwie schwingen die städtebaulichen Probleme seit hundert Jahren zwischen den gleichen Oppositionen hin und her. Wem das Buch nur allein diese Einsicht beschert, den provoziert es vielleicht auch zu Ideen für einen Ausweg?
Marc Hirschfell