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Wir befinden uns mitten im Europäischen Jahr zum aktiven Altern. Mein Wissen und Verständnis von Barrierefreiheit speist sich aus unterschiedlichen Regelwerken. Sei es das Behindertengleichstellungsgesetz, seien es die Landesbauordnung und verschiedene DIN Normen, beispielsweise die DIN 18040. Da tauchen Goethes mahnende Worte vor meinem inneren Auge auf. „Man erblickt nur, was man weiß und versteht.“ Und ich frage mich: Was weiß und verstehe ich tatsächlich? Höchste Zeit für einen Selbstversuch. Mit meiner Kollegin Martina Kirsch und Dietmar Böhringer vom Verband für Blinden und Sehbehindertenpädagogik wage ich mich mit Blindenstock und Rollstuhl auf den Weg.
Dietmar Böhringer erklärt uns den Blindenstock und zeigt wie man ihn benutzt: „Früher wurde die Tipptechnik angewendet. Heute nutzt man aufgrund der Porzellankugel, die an der unteren Spitze des Blindenstockes angebracht ist, die Schleiftechnik.“ Mit verdeckten Augen versuche ich mir, meinen Weg zu ertasten. In ruhigen Bewegungen schwenke ich den Blindenstock hin und her. Ein gleichmäßiges Schleifen ist zu hören und jedes Mal, wenn der Stock auf ein senkrechtes Hindernis trifft, höre ich einen dumpfen Schlag. Ich orientiere mich an der Häuserwand. In dieser Situation empfinde ich den Klang des Blindenstocks und der mich umgebenden Geräusche als vordergründig. Es bildet sich ein Klangraum. Unsicherheit tritt in dem Moment auf, in dem der gleichmäßige Rhythmus, den ich selber erzeuge, unterbrochen wird. Beispielsweise durch eine Öffnung in der Wand, bei der meine Leitlinie, die Häuserwand, sich plötzlich auflöst und ich nicht sicher bin, ob ich sie wieder ertasten kann. Erst nach einigen unsicheren Schritten und dem erneuten dumpfen Schlag bin ich wieder erleichtert. Doch es wartet schon die nächste Herausforderung: eine Straße überqueren. Jetzt muss ich die Bordsteinkante als neue Begrenzung finden. Das ist gar nicht so einfach, denn durch Bordsteinabsenkungen ist diese für mich fast nicht zu ertasten. Es dauert eine Weile bis ich tatsächlich fündig werde. Jetzt muss ich mich orthogonal zur Bordsteinkante ausrichten und vorsichtig auf die Straße treten. Kommt tatsächlich kein Auto? Werde ich gerade über die Straße gehen oder eher diagonal? Dank meiner Begleitung schaffe ich es sicher auf die andere Straßenseite und brauche keine Angst zu haben.Im Rückblick ist es für mich kaum nachzuvollziehen, wie ich tatsächlich gelaufen bin. Ich kann nicht einfach auf ein Ziel zulaufen, das ich an einer bestimmten Stelle in weiterer Entfernung vermute. Distanzen sind schwer einzuschätzen. Vor meinem inneren Auge entsteht eine Welt aus Kanten, Flächen und Geräuschen, nur deutliche „Leitkanten“ führen mich sicher durch diesen Raum. Als Sehende habe ich das Ziel im Auge und baue den Weg ab: „noch 100m, noch einmal um die Ecke…“ Jetzt muss ich meinen Weg Stück für Stück aufbauen.
1. Ich sehe mein Ziel und kann es direkt ansteuern, Hindernisse werden kaum wahrgenommen.
2. Ich sehe mein Ziel, erreiche es aber nur über Umwege.
3. Ich sehe mein Ziel nicht, und auch nicht die Hindernisse und brauche deswegen „Leitkanten“. In einer gemeinsamen Umwelt ist ein Zielkonflikt vorprogrammiert.
Für diese und viele weitere Situationen bedarf es innovativer Lösungen.
Mit dem Rollstuhl treten ganz andere Probleme auf. Hier steht meine Körperkraft im Mittelpunkt, mit der ich alle Hindernisse umfahren muss. Ich habe den Eindruck, dass Barrieren wie aus dem Nichts auftauchen. Augenscheinlich sieht der Bürgersteig eben aus, aber im Rollstuhl spüre ich jedes noch so schwache Quergefälle im ganzen Körper, denn es fällt mir schwer die Spur zu halten. Wasserrinnen mitten auf dem Platz, die mit Kopfsteinpflaster ausgelegt sind, werden zu einer regelrechten Falle. Die Reifen vom Rollstuhl drehen durch und ich verkante mich. Meine Kollegin muss mich befreien. Eine Bordsteinkante, die höher als drei Zentimeter ist, kann ich nicht überwinden, da ich Angst habe, vorne aus dem Rollstuhl zu kippen. Diese Kante wird für mich zu einer Barriere mit dem Ausmaß eines Abgrundes. Öffentliche Orte wie ein schickes Café in der Innenstadt sind plötzlich Räume, aus denen ich mich regelrecht ausgeschlossen fühle, weil dort eine Stufe von 12 cm zu überwinden ist. Ganz zu schweigen von den Sanitärräumen, die ich selbst dann nicht nutzen kann, wenn ich durch Zufall doch in ein Café gelange, denn sie sind mit Stufen vom Gastraum getrennt und keine einzige regelgerechte Bewegungsfläche ist im Bad eingehalten. Zwar habe ich jetzt mein Ziel immer klar vor Augen, aber ich muss mich auf umständlichen und beschwerlichen Umwegen dort hin begeben.
Bisher lief ich tagtäglich durch die Stadt und überwand dabei Hindernisse, an die ich mich in der Regel im Nachhinein kaum erinnerte. Durch den Selbstversuch ist zum theoretischen Wissen das innere Verständnis hinzugekommen. Das emotionale Erlebnis hat mir die Augen geöffnet – denn man sieht nur, was man weiß UND versteht.