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Foto: Fusi & Ammann Architekten
Moltkestraße 572461 Albstadt-Tailfingen
Konzeption, Funktion, Angemessenheit: Nutzung der Potentiale des Vorhandenen und kontextuelles Gedächtnis für die ZukunftDas sehr zentral am Markt gelegene evangelische Gemeindehaus aus dem Jahr 1938 war für die gegenwärtigen Bedürfnisse der Kirchengemeinde nicht mehr angemessen, die Wartungs- und Sanierungskosten nicht mehr finanzierbar. Es stand daher zum Verkauf. Die Stadtverwaltung hatte zudem in den letzten Jahren durch die Neugestaltung der öffentlichen Räume am Markt die Ortskernsanierung entwickelt und die Außenräume in unmittelbarer Nachbarschaft qualitativ neu bewertet. Diese Umstände boten den Bauherren, die selbst seit Generationen in Tailfingen wohnen, die Gelegenheit, das leerstehende Gebäude zu erwerben. Durch eine Grundstückserweiterung eines angrenzenden kleinen öffentlichen Parkplatzes wurden die Sanierung des Altbaus und die Ergänzung eines Neubaus zu einem Mehrfamilienhaus möglich.
In Ortsmitten wie der von Tailfingen sind Bauten wie das ehemalige Gemeindehaus Zeugnisse historischer Formen des solidarischen und gemeinschaftlichen Lebens und prägen die Identität der Stadt und ihrer Menschen. Dem Bauherrn ging es nicht nur darum, ein Gebäude mit seinem Gedächtnis zu retten, zu dem er bereits Bezug in seiner Kindheit hatte, sondern darum, gemeinsam mit den Architekten einen konkreten Vorschlag für die Wiedergewinnung von zukunftsfähigen Formen des Zusammenlebens und Wohnens zu entwickeln. Hierfür wurde das Gebäude komplett neu konzipiert, programmatisch wiederbelebt und weitergebaut.
Die 12 barrierefreien/-armen Wohneinheiten mit komplett unterschiedlichen Grundrissen bieten ein extrem breites Spektrum an Wohnungsgrößen und -typen. Dies ermöglicht eine soziokulturelle Durchmischung der Einwohnerstruktur und das Projekt entwickelt sich automatisch zum Mehrgenerationenhaus.
Zeitbezug: Ressourcenschonende Verdichtung im ländlichen GebietDas Mehrfamilienhaus setzt sich mit zentralen Themen der gegenwärtigen Baukultur auseinander und gibt gezielte Antworten auf aktuelle und zukünftige Lebensvorstellungen der Menschen in der Region. Im Zuge des Prozesses eines Strukturwandels im ländlichen Gebiet besteht auch im Zollernalbkreis immer mehr der Bedarf, historische Ortskerne, welche in der Vergangenheit als Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung gewirkt haben, wieder zu beleben. Diese Ortskerne wurden in den letzten Jahrzehnten sowohl von der Bevölkerung als auch vom ansässigen Gewerbe graduell verlassen; in der Peripherie hiervon entwickelten sich Neubaugebiete, Gewerbeflächen und Nahversorgungszentren auf Kosten von Naturflächen und wurden häufig mit überdimensionierten Erweiterungen von kostspieligen Mobilitäts- und Logistikinfrastrukturen ausgestattet. Dieser Prozess wird heute, in Anbetracht des verschwenderischen Umgangs mit den Naturressourcen in Frage gestellt und benötigt klare und effiziente Strategien, um den Bestand der Gebäude so weit wie möglich als primäres Vermögen für eine zukunftsfähige Entwicklung des Wohnraums in der Region zu betrachten.
Das Projekt für das Stadthaus am Markt positioniert sich deutlich gegenüber diesem Strukturwandel, schlägt Lösungen vor, um für sehr unterschiedliche Menschen und vielfältige Lebensentwürfe attraktiven Wohnraum in einer inneren Lage des Ortskernes durch eine ressourcenschonende Verdichtung zu ermöglichen. Es leistet einen konkreten Beitrag zur Wiederbelebung des Ortskerns, und trägt somit zur Identifikation der Einwohner mit dem kleinstädtischen Gefüge von Tailfingen bei.
Städtebauliche und architektonische Idee – Umgang mit dem Grundstück, Freiraumgestaltung – Äußere Gestalt: Den Kontext weiterentwickeln und der Dialog zwischen Alt und NeuDas städtebauliche und architektonische Konzept basiert auf einer harmonischen Synthese zwischen alten und neuen Gebäuden, welche die existierenden kleinstädtisch-urbanen Räumen aufwerten. Das umgebaute Gemeindehaus wird als Anhaltspunkt für die Gliederung des neuen Gebäudes und als Referenz für das bauliche Volumen betrachtet. Der zweiflüglige Neubau dockt sich direkt an den Altbau an. Verbindendes Element und Ankerpunkt bildet das neue Treppenhaus. Der Gebäudeflügel an der Moltkestraße übernimmt die Fluchtlinie und ermöglicht eine klarere Fassung des Straßenraums, während der zweite Flügel das Grundstück Richtung Markt angemessen verdichtet. Durch die bauliche Intervention werden mit den anderen bestehenden Nachbargebäuden Innenhöfe gebildet und das existierende Stadtgewebe vervollständigt.
Das Treppenhaus wird als zentraler Ort des Gebäudes betrachtet. Hier wird der konstruktive Dialog zwischen Alt und Neu lesbar: durch die ehrliche Gegenüberstellung von verputztem altem Mauerwerk, neuen Fertigteiltreppen und der Sichtbetonkonstruktion. Das Treppenhaus verbindet durch einen Haupt- und Nebeneingang sowohl das Haus mit der Moltkestraße als auch mit dem Markt und ermöglicht allen Wohnungen den Zugang zum Gemeinschaftsgarten.
Die Kopfsituationen des Neubaus werden gestalterisch durch plastische Abrundungen geprägt, welche sich zum Markt orientieren und explizit den Dialog zwischen privaten und öffentlichen Räumen deklarieren. Hier befinden sich Balkone und Terrassen, welche die räumlichen Schwellen zwischen Innen und Außen, zwischen Privat- und Gemeinschaftsleben ermöglichen.Wie im Altbau, basiert die Fassadenkomposition auch im Neubau auf klaren Perforierungen der plastischen Baumasse; allerdings entwickelt sie sich freier und gezielter, angepasst an die Blickbeziehungen der einzelnen Räume. Das Flachdach des Neubaus differenziert sich von der komplexen Dachform des Altbaus und macht sich als neu erkennbar.
Der bestehende Baumbestand wurde so weit wie möglich erhalten und mit kleinkronigen Bäumen und Hecken ergänzt. Entlang der Straßenfassade an der Moltkestraße nehmen großformatige bepflanzte Cortenstahltröge die Außenraumgestaltung der Innenstadt auf, wirken so der Überhitzung des verdichteten Raums entgegen und unterstützen Frischluftströme. Die Gartenanlage wirkt als sichtbare kleine grüne Oase neben dem Marktplatz.
Konstruktion, Technik, Details, Ausführung – Nachhaltigkeit: Re-Use und Weiterbauen, Zirkulär, regenerativ und regional BauenZiel war es, eine Einheit in der Komposition des Gebäudes zu erreichen, bei der stets der Altbau und der Neubau ablesbar sind. Der Altbau wurde zum Teil entkernt und von Grund auf energetisch saniert. Aufgrund seiner sehr guten konstruktiven Beschaffenheit und somit Tragfähigkeit konnten die wesentlichen tektonischen Bestandteile übernommen werden und nur partiell ertüchtigt bzw. mit einer Holzkonstruktion ergänzt werden. So wurde z. B. der Dachstuhl komplett erneuert und entsprechend gedämmt, auch um den Wohnungen im Dachgeschoss angemessene klimatische Voraussetzungen zu bieten.Der Neubau/Anbau wurde komplett in massiver Bauweise errichtet. Das Treppenhaus und die Decken in Stahlbeton, die Innen- und Außenwände in Mauerwerk. Gedämmt wurden Alt- und Neubau mit 16 cm gedübelter Mineralwolle, die mit einem groben Mineralputz überzogen wurde. Alle Materialien und Baustoffe sind natürlich, dauerhaft und reparaturfähig.
Das Projekt ist durch ein intelligentes Energiekonzept gekennzeichnet. Die durchdachte architektonische Komposition und Konstruktion, macht eine Übertechnisierung des Gebäudes überflüssig. Im Sinne des „zirkulären Bauens“ wurden so viele Baumaterialien wie möglich behalten oder wiederverwendet. Es wurde eine komplexe Hybridkonstruktion aus Mauerwerk, Stahlbeton und Holzbau entwickelt, um alle Materialressourcen an den richtigen Stellen und mit dem angemesseneren energetischen Aufwand einzusetzen. Das Gebäude wurde ausschließlich mit lokalen Handwerkern und überwiegend regionalen, wertigen, nachhaltigen und dauerhaften Bauprodukten realisiert, um aufwendige Transportkosten zu minimieren, aber auch um die handwerklichen Kompetenzen und Kräfte aus der Region einzubeziehen und ihre wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. So wurden beispielsweise die Liapor-Mauerwerksteine des Neubaus nur 3 Kilometer von der Baustelle entfernt hergestellt und die hochwertigen Holz-Alu-Fensterelemente am gesamten Gebäude wurden lokal mit Fichteholz aus dem Schwarzwald produziert.
Wohnungsgrößen: 36-133 m²BGF: 2.150 m²Baukosten KG 300-400: 2,6 Mio EuroPlanung: 2019-2020Realisierung: 2021-2023Tragwerksplanung: AMMANN IBA Ing.-Büro für Tragwerksplanung ▪ Beratende Ingenieure PartG mbB, AlbstadtTGA-Planung: Ingenieurbüro Büchele GmbH Technische Gebäudeausrüstung, Pfronstetten–GeisingenBauphysik/Brandschutz: Bauplanung Nedele & Partner, Dipl.-Ing. (FH) Martin Nedele, Engstingen
Aktuelle Ergebnisse, die Prämierungen aus den letzten beiden Jahren sowie die ausgelobten Verfahren in diesem Jahr inklusive Tipps zur Teilnahme finden Sie hier.