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Foto: Zooey Braun
Stuttgart-Heslach
Wohnhäuser in Stuttgart HeslachRobuste Hülle zur optionalen Aneignung
-von David Kasparek
Der Boden, auf dem wir leben, ist ein nicht vermehrbares Gut. In vielen Städten und Kommunen wird der Platz für Wohnraum knapp. Denn trotz der richtigen Feststellung, dass unsere Städte weitestgehend gebaut sind, also im bundesdeutschen Mittel genug Wohn- und Arbeitsraum zur Verfügung steht, sind diese bestehenden Flächen oft nicht an der richtigen Stelle. Gerade in wirtschaftlich prosperierenden Ansiedlungen wird Wohnraum benötigt. Die zur Verfügung stehenden Grundstücke sind aufgrund der hiesigen Wirtschaftsform einer steten Spekulation und damit verbundenen Preistreiberei unterworfen. Seit 1962 erfasst das statistische Bundesamt die Entwicklung der Baulandpreise hierzulande: Bis 2017 kam es zu einer Steigerung von 2.308 Prozent. Grundstückspreise werden teurer, mit ihnen die Baukosten.
Die Zeit seit Beginn der Covid-Pandemie hat außerdem gezeigt, dass wir grundlegend über die bauliche Konfiguration unserer Lebensräume nachdenken müssen. Die architektonische Moderne hatte ja vorgeschlagen, die Räume unseres Lebens in Produktion und Reproduktion zu teilen, also Arbeit auf der einen und Erholung auf der anderen Seite. Nun zeigt sich, dass diese Zweiteilung weder sonderlich praktikabel noch immer und überall durchzuhalten ist. Auch mit Blick auf die entstehenden Verkehrsströme gilt es, dieses Prinzip infrage zu stellen. Dafür bedarf es aber Grundrissen, die verschiedene Wohnformen zulassen. Unsere Behausungen müssten dafür so gefügt sein, dass sie sich den jeweiligen Bedürfnissen ihrer Bewohnenden anpassen, sich je nach Lebensphase adaptieren und immer wieder aufs Neue justieren lassen. So könnten flexible Grundrisse es ermöglichen, an einem Ort zu bleiben, auch wenn man Familie gründet, die Familie größer und wieder kleiner wird oder eine andere Form der Lebens- und Wohngemeinschaft eingeht.
In Stuttgart Süd, an einem der Heslacher Hänge, hat das Büro VON M eines jener in der Stadt so selten werdenden, noch offenen Grundstücke gefunden. Wegen seiner Topographie, am nach Süden stark ansteigenden Hang, galt es lange als kaum zu bebauen. Die Architekt:innen haben hier zwei fast identische Häuser auf jeweils nahezu quadratischem Grundriss entwickelt. Dabei nimmt der Entwurf sowohl die Traufhöhe des östlichen Nachbarhauses wie auch dessen Gebäudetiefe als Maßstab gebendes Element mit auf. Da sich der Bau aufgrund der extremen Steigung des Grundstücks bis zu drei Geschosse in die Erde graben musste, stand schnell fest, dass ein Großteil des Hauses in Beton ausgeführt werden musste. Um Planungs- und Baukosten gering zu halten, entwarfen die Planer:innen einen Katalog aus einfachen Details und Fügungen mit Betonfertigteilen, die nun das gesamte Doppelhaus prägen.
Um die Schwierigkeiten des Baumaterials hinsichtlich seiner CO2-Emissionen wissend, entwickelte VON M im Folgenden ein flexibles Innenleben für die robuste Betonschale mit dem Ziel, im Ausbau verschiedene Grundrissvarianten zu ermöglichen, die auch in Zukunft Umbauten zulassen. Dafür etablierten sie ein kreuzförmiges Grundrissschema, das mit leichten Vorhängen, Holztrennwänden oder Schränken unterschiedliche Optionen der innenräumlichen Fügung möglich macht. Auch wenn die jeweiligen Stellen im Grundriss nicht mit einer Wand belegt sind, zeigen in den Boden eingelassene Holzleisten das Schema an und sorgen für eine subtile Zonierung der Räume. So ist nicht nur sichergestellt, dass die tatsächlich ausgeführten Grundrissvarianten in beiden Häusern den jeweiligen Bewohner:innen adäquat sind, sondern die Bewohnenden auch künftig noch Veränderungen vornehmen können, die den Umstellungen ihrer jeweiligen Lebensumstände entsprechen.
Von der Straße her zeigen sich beide Teile des Doppelhauses wie eineiige Zwillinge: kleine Vorgärten, bodentiefe, große Fensteröffnungen, Aussparungen für Eingangsloggien im Erdgeschoss und kleine Terrassen im Dachgeschoss, dazu das Fugenbild der Betonfertigteile. Den industriellen Charakter der Vorfertigung unterstreichen die Gitterbrüstungen vor den Fenstertüren und Terrassen. All das folgt der Steigung der Straße, die Fugen der jeweiligen Bauteile gehen im System fein auf und legen Zeugnis ab von der sorgfältigen Detailplanung.
Einer logischen Folge hin zu mehr Privatheit folgend, entwickeln sich die Räume von der Öffentlichkeit der Straße ins Haus hinein und dort sukzessive nach oben. Wie eine räumliche Schwelle ist ein kleiner Vorplatz zwischen Straße und Haus eingefügt, die Terrasse, Auffahrt, Vorgarten und Mülltonneneinhausung gleichermaßen ist. Im Erdgeschoss befinden sich ein universell nutzbarer Raum, der sowohl Stellplatz für Zweiräder wie Arbeitsplatz oder Gästezimmer sein könnte, zwei hangseitige Abstellräume und ein Gäste-WC. Das Treppenhaus wird von einem fast haushohen Luftraum begleitet, der bei Bedarf später einmal mit einem Fahrstuhl nachgerüstet werden kann. Die Ästhetik des Äußeren wird hier ungebrochen fortgeschrieben: Beton und die schon bekannten industriellen Gitter für Brüstungen und Handläufe. Von hier gelangt man in einen offenen Wohnbereich im 1. Stock, der in Richtung der hangseitigen Küche durch eine Holzwand abgetrennt werden kann, momentan aber offen ist. So ist das gesamte Geschoss als durchlässiger Wohnraum samt Küche mit Essplatz, Couch und Sessel auf beiden Seiten mit Fenstern mit dem Außenraum verbunden. Zum Hang haben beide Häuser kleine Höfe, die sich mit ihren Einfriedungen als private Außenräume in den Hang graben und keine Blicke von außen zulassen. Auch das Geschoss darüber könnte als vollständige Fläche genutzt werden, ebenso gut aber ein, durch eine Wand räumlich gefasstes und ein, durch einen Vorhang optisch abgetrenntes Kompartiment ergeben – oder mit zwei klassischen Zimmern ausgeführt werden. Dazu kommt ein Bad, das im westlichen Zwilling mit einem großen runden Fenster ausgestattet ist, das wie eine augenzwinkernde Hommage an OMA´s Maison à Bordeaux wirkt. Das Dachgeschoss ist strukturell gleich aufgebaut: Hier ist der straßenseitige Raum derzeit als offenes Studiolo ausgeführt, ergänzt um ein Zimmer und ein weiteres Bad. Dazu kommt eine kleine Dachterrasse, von der der Blick weit über die Dächer Heslachs bis hinüber zum Hasenberg schweifen kann. Überhaupt, die Ausblicke: Immer wieder rahmen die großen, bodentiefen Fenster die Blicke ins Grün des Bergflanke oder hinaus auf die Stadt.
Durch die vielseitig flexibel einräumbaren Grundrissvariationen entsteht eine Art fluider Kern innerhalb der robusten Konstruktion, die sich – einer schützenden Schale gleich – um das Innere des Hauses legt. Vorstellbar, dass die viergeschossigen Häuser, die derzeit von je einer Familie bewohnt werden, dereinst von Alters-WGs genutzt oder einzelne Etagen als Einliegerwohnungen abgetrennt werden. Wohnen ist hier als Gesamtheit unserer Tätigkeiten gedacht, denen die Räume des Hauses als logische Fortsetzung der Räume der Stadt eine angemessene Option der Aneignung und Variation zugesteht. So aktivieren die beiden Häuser nicht nur ein sonst nur schwer zu nutzendes Grundstück in der Stadt, sondern machen seine Gebrauch durch die Bewohnenden auch in einer heute noch nicht definierten Konstellation in einer ungeschriebenen Zukunft möglich.
David Kasparek studierte Architektur in Köln und war zwischen 2006 und 2019 in unterschiedlichen Funktionen Mitglied der Redaktion der BDA-Zeitschrift "der architekt" in Bonn und Berlin. Der sozialisierte Hesse mit hanseatischem Migrationshintergrund gründete 2020 das interdisziplinäre „studio kasparek“, das sich im weitesten Sinn mit Gestaltung und ihrer Vermittlung beschäftigt. Mit Fokus auf Architektur und Industriedesign schreibt und moderiert David Kasparek, ist als Berater und Grafiker tätig sowie als davidkaspar3k in den sozialen Netzwerken umtriebig.
Aktuelle Ergebnisse, die Prämierungen aus den letzten beiden Jahren sowie die ausgelobten Verfahren in diesem Jahr inklusive Tipps zur Teilnahme finden Sie hier.