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Mit dem Ziel, einen einzigartigen Branchentreff zu schaffen, hat die Architektenkammer am 6. April auf dem Messegelände Stuttgart zum ersten Landeskongress für Architektur und Stadtentwicklung in Baden-Württemberg eingeladen.
„Mutig“ fand Moderator Dr. Tillman Prinz das neue Großformat ARCHIKON, das künftig alle zwei Jahre stattfinden soll. Als Vertreter der Bundesarchitektenkammer hob er gleichzeitig hervor, wie wichtig es sei, dass die Architektenschaft Zeichen setzt. Dass tatsächlich die erhofften 1.000 Vertreterinnen und Vertreter der Politik, Kommunen, Wohnungswirtschaft und des Berufsstands zum Kongress gekommen sind, bestätigte die Veranstalter in ihrem Konzept. Und, um es vorweg zu nehmen, auch die Rückmeldungen während und am Ende des Tages waren sehr positiv, mitunter sogar enthusiastisch.
Die aktuelle Wohnungsnot prägte das Kongressprogramm. „80.000 neue Wohnungen benötigen wir jährlich in Baden- Württemberg“, erklärte Kammerpräsident Markus Müller und verwies dabei auf die Ergebnisse wichtiger Forschungsinstitute. Dem stünde eine Fertigstellungszahl von 35.000 im Jahr 2014 gegenüber. 2016 werden es voraussichtlich 40.000 sein. Der Präsident sieht seinen Berufsstand aufgerufen, (auch mit solch einem Kongress) auf den Marktplatz der gesellschaftlichen Debatten zu treten, gegenseitiges Verständnis zu befördern und sich in die Programmatik der Politik einzubringen. Vor dem Hintergrund der laufenden Koalitionsgespräche war der Zeitpunkt gut gewählt.
Etwa 80 Prozent der Flugzeugabstürze gingen auf menschliches Versagen zurück, erklärte Patrick Gmür im Eröffnungsvortrag, den der Direktor des Amts für Städtebau Zürich unter dem Titel „Fly-by-Wire“ hielt. Zwischen der elektronischen Flugzeugsteuerung und dem Zusammenspiel der Kräfte in der Stadtplanung sieht er viele Parallelen, wobei das Scheitern der letzteren zu 100 Prozent auf menschliches Versagen zurückzuführen sei. Hier wie dort empfiehlt sich deshalb ein Sicherungssystem. Beim Flugzeug funktioniert das so: „Jeder Befehl, den der Pilot abgibt, wird durch den Bordcomputer geprüft und, falls er schlüssig ist, an das Steuerungssystem weitergegeben.“
Was heißt das auf die Stadtplanung übersetzt? Auch wenn es hier nicht unmittelbar um Tod und Verderben geht, so steht doch immerhin die lebenswerte Stadt auf dem Spiel. Zu ihr führen laut Gmür „verschlungene Pfade“, d.h. „demokratische Prozesse“. Nach einer Klärung der mengenmäßigen Vorgaben (dem „Kerosin“), wie die Anzahl der benötigten neuen Wohnungen, müsste die klare Benennung der städtebaulichen Destination kommen: „Wachsen, aber richtig“ ist für den Züricher das Losungswort. Erklärtes Ziel der Regierung sei die quantitative, aber auch die qualitative Verdichtung nach innen: Das Neue muss mindestens die Qualität des Bestehenden aufweisen. Für Gmür zählen dazu immer die Stärkung der Nachbarschaft oder eines ganzen Quartiers.
Zürich ist für ihn nur ein typisches Beispiel, viele Prinzipien ließen sich auf andere Orte übertragen: das Erbgut, das jede Stadt hat, die Topographie, die historisch gewachsene Siedlungsstruktur etc. Große neue Bauvorhaben müssten sich auf die DNA beziehen und daran andocken. „Städtebau und Architektur sind keine solistischen sondern vielmehr korrektive Disziplinen. […] Deshalb haben es internationale Stararchitekten in einer Demokratie auch so schwer zu bauen“, hielt Gmür fest. Damit kein „Architekten- Ufo“ lande, würden im Sinn von Fly-by-Wire verschiedene Kräfte zusammenspielen, darunter das Baugesetz und die kommunalen Richtpläne, das Baukollegium sowie die Maßgabe, jedes größere Bauvorhaben in einem Architektenwettbewerb entscheiden zu lassen.
Eine wichtige Komponente sieht der Städtebaudirektor dabei auch immer in der planerischen Konkretisierung. In beeindruckender Geschwindigkeit spulte er die Kosten einer Verdichtung ab: Bei 15.000 zusätzlichen Einwohnern und einem durchschnittlichen Flächenbedarf von 40 Quadratmetern pro Kopf belaufe sich der Neubedarf auf 600.000 Quadratmeter. 8 Prozent der Bevölkerung seien schulpflichtig, also komme man auf 1.200 neue Schüler. Die Kosten für eine Schule belaufe sich auf rund 50 Millionen Euro… Gmür empfahl, nach sehr einfachen Plänen zu arbeiten.
Die mit fünf Jahren vergleichsweise kurze Dauer von gewählten politischen Ämtern steht in gewissem Widerspruch zu den mindestens 20 Jahren, die für eine langfristige Strategie in der Stadtplanung anzusetzen ist. An einem Beispiel zeigte Gmür, wie sich das eine mit dem anderen vereinbaren lässt: Anhand von Leitfragen hat sich die Züricher Stadtregierung mit der „Strategie 2035“ auf ganz unterschiedliche Ziele, darunter soziale Verträglichkeit oder ausreichende Grünflächen geeinigt, bei denen letztlich für jede der fünf (Regierungs-) Parteien etwas dabei war. Dadurch ist gewährleistet, dass auch nach personellem Wechsel in der Politik die einmal beschlossenen Pläne ihre Gültigkeit bewahren. Als einen klaren Vorteil für die Beziehung von Politik und Stadtplanung beschrieb Gmür die gute Vermittelbarkeit der letzteren: Anders als die meisten politischen Themen, die sich aufgrund ihrer großen Komplexität schlecht der breiten Bevölkerung verständlich machen ließen, gebe es im Bereich der Stadtplanung zahlreiche Anknüpfungspunkte, weil die Menschen durch räumliche und soziale Änderungen konkret betroffen sind.
„Wir Schweizer sind ein munteres Stimmvolk“, hielt Gmür fest. Entsprechend haben all diejenigen Projekte, die auf einem Volksentscheid basieren, beste Chancen zur Umsetzung: selbst solche Forderungen, dass im Jahr 2050 der Pro-Kopf-Verbrauch bei 2000 Watt zu liegen hat oder der Individualverkehr um ein Viertel zu reduzieren ist. Architektonische oder stadtplanerische Argumente ziehen laut dem Städtebaudirektor hingegen wenig. Wer wirklich etwas steuern und gestalten wolle, müsse sich deshalb zunächst mit der Maschinerie vertraut machen, resümierte Gmür im Sinne seiner Metapher vom Fly-by-Wire.
In Ergänzung zur Züricher Perspektive (Patrick Gmür) gab die anschließende Podiumsdiskussion „Zukunftsfähige Stadtentwicklung – Wachstum, Wohnen, Identität?“ Einblick in diejenigen von Berlin (Prof. Ulrike Böhm), Wien (Herwig Spiegl) und München (Prof. Mark Michaeli); auch Baden-Württemberg war selbstverständlich vertreten (Markus Müller).
Ulrike Böhm wies auf den Widerspruch hin, der in der Forderung nach Nachverdichtung enthalten ist: Mit ihr gingen einerseits Freiräume verloren, andererseits steige der Nutzungsdruck auf die verbleibenden Flächen. Zu den Zielen der Aufwertung gehörten der kulturelle und der soziale Ausgleich, Gegengewichte zum Klimawandel oder auch die Gesundheitsförderung. „Wir müssen integrierte Stadtentwicklung betreiben“, stellte die Landschaftsarchitektin klar. Sonst liefe man Gefahr, dass Handlungsoptionen nur punktuell griffen, zumal Städte und Gemeinden oft keinen umfassenden Überblick über die Ausstattung ihrer Freiflächen hätten. Diese seien jedoch ein zentrales Element der Stadtentwicklung; entsprechend müsste hier den Landschaftsarchitekten und Verkehrsplanern auch eine bedeutendere Rolle zugewiesen werden. Es gelte, deren Zusammenarbeit mit Architekten und Stadtplanern zu intensivieren und Pläne aufzustellen, die alle miteinbeziehen.
Das große Thema von Mark Michaeli ist der suburbane Raum. Der TU-Professor für sustainable urbanism verwies darauf, dass die Systeme der Stadt weit über deren Grenzen hinaus reichten, der Entwicklungsdruck aufgrund der Innenverdichtung laste auch auf den Randgebieten: Dazu erläuterte er: „Gerade im suburbanen Raum, der so grün aussieht, haben wir das größte Freiflächendefizit.“ Private Gärten gebe es zwar jede Menge, doch fehle für den verdichteten Geschosswohnungsbau der notwendige öffentliche Raum.
Michaeli plädierte für ein positives Bild von der Zukunft und eine größere Experimentierfreudigkeit, zumal man für den bevorstehenden Prozess auf keine Erfahrungswerte zurückgreifen könne. Der Münchner, der auch als Vermittler interdisziplinärer Belange von Städtebau und räumlicher Entwicklung in Studiengängen jenseits der Architektur tätig ist, forderte, mehr über die Dinge zu reden. In puncto Maßnahmen-Erklären befänden sich Bayerns politisch Verantwortliche am absoluten Tiefpunkt.
Alternative Wege einzuschlagen ist auch das Markenzeichen von Herwig Spiegl. Konkret plädierte er dafür, Entwickler und Architekten künftig Wettbewerbe gemeinsam bestreiten zu lassen. So könnten von Beginn an die richtigen Konzepte entstehen. Denn obschon die verschiedenen Player einander sehr wohl verstünden, würde traditionell ein gewisses Missverstehen kultiviert. „Zwangsehen“ wären hilfreich.
Um Wiens Vorreiterrolle in Sachen Wohnungsbau zu erklären, verwies Spiegl auf die besondere Rolle der Stadt: Diese sei die Besitzerin der meisten Grundstücke, die sie nur nach Durchführung von Wettbewerben vergebe. Die Beiträge müssten wiederum alle Erfordernisse des Teams abbilden. Jeder Beteiligte wisse, dass er Teil einer langen Kette ist. Jeder habe die Möglichkeit seinen Standpunkt zu erläutern und zu erklären, auch der Bauträger. Dass Auslobungsunterlagen Spielräume offen lassen, findet Spiegl ebenfalls ein Muss.
„Wie formalisiert sollte man sein?“ – über diese Frage zu diskutieren, hält auch Markus Müller für dringend angesagt. Darüber gelte es zu sprechen, aber auch ansonsten gebe es in Sachen Architekturwettbewerb „eine ganze Reihe von Themen, bei denen wir Ideologien abbauen müssen.“ Jene seien eigentlich „betriebswirtschaftlicher Unfug“; gleichwohl böten sie die Chance, in die Zukunft zu investieren. Lohnenswert ist es für den Kammerpräsidenten, Wege zu schaffen, um Bürgerbeteiligung in kompetitive Verfahren zu integrieren. Ziel muss sein, Planungsprozesse über Öffentlichkeit und Dialog verständlich zu machen.
Der Architekt und Stadtplaner lenkte den Blick auf die fruchtbaren Momente, die aus der Wohnungsnot erwachsen: „Wir fangen an, über Dinge zu reden, für die wir früher als Sozialromantiker abgetan worden wären.“ Der Nachbarschaftsgedanke sowie die Nutzungs- und Sozialmischung seien wieder sagbare Kriterien. Auch freute sich Müller, dass die Politik die Stadtplanung wiederentdecke. Statt der Kämmerer spielten nun die Baubürgermeister eine zunehmend wichtige Rolle.
Qualitative Vorgaben müssen von der Politik getragen werden, ist auch Patrick Gmür überzeugt. Mit dem Baukollegium habe man in Zürich eine Kommission, die von der Stadtregierung gewählt sei und deren Empfehlungen sie sich deshalb auch zu 99 Prozent anschließe. In dem Gremium fänden Präsentationen von Architekten und Landschaftsarchitekten auf höchstem Niveau statt, kein Projekt würde mehr als zwei Mal verhandelt. Im Vergleich zu dieser seit 1896 bestehenden altehrwürdigen Institution verwies Böhm auf die ganz andere Tradition der Gestaltungsbeiräte in Deutschland. Ob deren Vorschläge und Empfehlungen befolgt würden, sei jeweils alles andere als sicher. Sie selbst ist nicht nur Mitglied eines Gestaltungsbeirats, sondern auch Sprecherin des BDLA. In dieser Funktion nimmt sie vielfach die Gelegenheit wahr, Parlamentarier für Themen des Freiraums zu sensibilisieren: dass seine Pflege einen essentiellen Teil der Zukunfts- und Daseinsvorsorge ausmacht und dass Empfehlungen wie im jüngst erschienen Grünbuch des BMUB (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit) konsequent an Städte und Gemeinden weitergegeben gehören.
Zu einer drängenden Aufgabe für die Zukunft zählte Markus Müller, überhaupt erst einmal die Aufgaben klar und ohne Verschleierung zu benennen. Einen großen Vorteil in der aktuellen Parteien-Konstellation erkennt er darin, dass sich nun auch wirklich große Probleme angehen lassen – Stichwort Demographie oder Mobilitätsverhalten. Die Politik müsse lernen, relevante Themen in der Öffentlichkeit zu diskutieren.
Hier finden Sie Berichte über die zweite Podiumsdebatte Wohnungsbaupolitik und das Abschlussplenum von ARCHIKON, erster Landeskongress für Architektur und Stadtentwicklung in Baden-Württemberg am 6.4.2016.
Fotos: Felix Kästle
Ein siebenköpfiges Podium diskutierte beim ARCHIKON angeregt die aktuelle Problematik der Beschaffung von bezahlbarem Wohnraum. Welche Standards, Strategien und Prozesse versprechen Erfolg?
Im Abschlussplenum von ARCHIKON zogen Präsident Markus Müller und Hauptgeschäftsführer Hans Dieterle eine erste Bilanz über den Landeskongress, aber auch über die neue Gremienstruktur der Architektenkammer.
Hier können Sie die Vorträge herunterladen
Impuls Lebensräume PerspektivenDebatte WohnungsbaupolitikPositionenImpuls Quergedacht
Wir stehen aktuell vor der entscheidenden gesellschaftlichen Aufgabe, den zukunftsfähigen Wohnungsbau zu gestalten. Die Kongressredner Herwig Spiegl und Michael Sachs haben bereits vorab Ihre Gedanken zu diesem Thema in einem DAB-Interview mit uns geteilt.
Die Berufspraxis des Planers wird geprägt von rechtlichen, organisatorischen oder strukturellen Herausforderungen. Die beiden Kongressredner Dr. Volkmar Wagner und Dr. Peter Hoffmann standen zu den Themen „Vergaberecht 2016“ und „Bürofirmierungen“ in einem DAB-Interview Rede und Antwort.
Im Nachgang zur gelungenen Premiere von ARCHIKON stellen wir Ihnen die Vorträge des Kongresses zum Download zur Verfügung. Damit lassen wir ein hochkarätig besetztes Programm mit relevanten Themen nochmals Revue passieren.