Veranstaltungsort für Tagungen, Seminare, Produktpräsentationen oder Pressekonferenzen.
Informationen für private und gewerbliche Bauherrinnen und Bauherren, Städte und Kommunen.
Bericht zur Veranstaltung vom 26.11. im Haus der Architektinnen und Architekten
Mit dem zweiten Termin der Macher:innengespräche rückte das Thema Räume in den Mittelpunkt des Abends – verstanden als Handlungsräume, als soziale und kulturelle Räume und als regionale Lebensräume. Eingeladen waren Stimmen aus drei sehr unterschiedlichen Kontexten:Alina Reinartz (Solidarische Landwirtschaft), Alexander Lenk (Bosch Global Real Estate), Dr. Kerstin Renz (Evangelische Akademie Bad Boll) sowie Hannes Bäuerle (AKBW). Moderiert wurde der Abend von Christian Holl.
Schon in der Einführung wurde deutlich: „Region“ ist nicht nur eine administrative Einheit, sondern der kleinste Maßstab des großen Ganzen, in dem wir leben, arbeiten und Verantwortung teilen.
Ein Format, das Offenheit ermöglicht
Das Gespräch orientierte sich am Fish-Bowl-Format. Während die Gäste und der Moderator dauerhaft auf dem Podium blieben, waren die zwei freien Stühle im Raum Einladung an das Publikum, selbst Teil des Gesprächs zu werden. Wer Platz nahm, brachte Fragen und Perspektiven ein – und verließ den Stuhl wieder, sobald der Impuls gesetzt war. So entstand ein bewegliches Gespräch, das den Raum immer wieder neu formte.
Solidarische Landwirtschaft – Region als Versorgungsraum
Alina Reinartz führte eindrucksvoll vor Augen, dass eine solidarische Region Orte schafft, an denen Grundversorgung gemeinschaftlich getragen wird: Energie, Gesundheit, Lebensmittel.
Doch die Realität zeigt eine andere Bewegung:
„Immer weniger Menschen bauen für immer mehr an.“
Die Frage ist daher eine existenzielle: Wo kommen die Lebensmittel der Zukunft her, wenn immer mehr Menschen aus der Landwirtschaft aussteigen?
Reinartz erinnert daran, dass Landwirt:innen nicht nur Nahrung produzieren, sondern Biodiversität sichern, Böden pflegen und Landschaften erhalten. Die Region ist für sie der erste Handlungsraum – lokal verwurzelt, politisch wirksam, ein Bündnis, das überhaupt erst den Weg auf Bundesebene öffnet. Das Netzwerk der Solidarischen Landwirtschaft versteht sich als Wissensspeicher und Beratungsnetzwerk und verstärkt regionale Kräfte durch Bildung und Austausch.
Industrie – Region weiterdenken
Für Alexander Lenk ist die Region weit mehr als der administrative Großraum Stuttgart. Sein Verständnis von „Greater Stuttgart“ reicht von Schwäbisch Gmünd über Pforzheim und Heilbronn bis nach Metzingen und Reutlingen – ein Raum mit rund 6 Millionen Menschen, aber zugleich einer kleinteiligen Struktur aus 179 Oberbürgermeister:innen.
„Wir sind nicht solidarisch.“
Mit diesem Satz verweist Lenk auf das Spannungsfeld zwischen ökonomischer Stärke und zersplitterten Zuständigkeiten.Die Beispiele, die er einbringt, zeigen, was möglich wird, wenn man Grenzen nicht als Barrieren, sondern als Experimentierfelder versteht.So entstand rund um eine Straße neben der Halbleiterfabrik von Bosch – gelegen in einem Biosphärengebiet – ein interkommunaler Impuls, der schließlich zur Idee einer Gartenschau 2039 führte.
Internationale Perspektiven ergänzten den Blick, etwa ein indisches Projekt mit einer begrünten Fassade, an der Kräuter wachsen – ein Beispiel für mitgedachte Landwirtschaft im Gebäude selbst.
Kirche – Unsichtbare Kräfte im ländlichen Raum
Dr. Kerstin Renz, von der Evangelischen Akademie Bad Boll, brachte eine Perspektive ein, die häufig übersehen wird: die Bedeutung von kulturellen und spirituellen Räumen für die Entwicklung einer Region. Auf ihrem täglichen Weg zwischen dem urbanen Stuttgart und dem ländlich-pietistisch geprägten Albvorland erlebt sie, wie unterschiedlich Raum verstanden, genutzt und gelebt wird. Dieser Wechsel zwischen Stadtraum und Landraum macht deutlich, dass Region nicht homogen ist, sondern sich aus sehr unterschiedlichen räumlichen Kulturen zusammensetzt.
Für Renz ist der Glaube eine unsichtbare Kraft, die gerade im ländlichen Raum eine tragende Rolle spielt. Rund 40 % der Deutschen gehören weiterhin einer Kirche an – im ländlichen Raum deutlich mehr. Diese Verankerung macht die Kirche zu einer Institution, die nicht nur Räume bereitstellt, sondern Raumdauer und Raumkultur prägt. Sie wird damit, oft unbemerkt, zu einem Akteur der räumlichen Entwicklung.
Besonders betonte Renz, dass im ländlichen Raum häufig ein regionales Bewusstsein fehlt. Ihre Formulierung
„Ackern vor der eigenen Haustür“
beschreibt präzise eine Haltung, die weit über Landwirtschaft hinausgeht: eine Orientierung am unmittelbaren Umfeld, an der eigenen Gemarkung, an den vertrauten Grenzen des Dorfes oder der Kirchengemeinde. Diese räumliche Engführung erschwert es, Region als gemeinsamen Gestaltungsraum zu denken. Region erscheint dann nicht als zusammenhängender Lebensraum, sondern als Summe lokaler Parzellen.
Renz machte deutlich, dass der ländliche Raum nur dann erfolgreich gestaltet werden kann, wenn die Kirche als entscheidende Kraft verstanden wird – kulturell, sozial, räumlich. Gleichzeitig stellte sie die Frage nach der Finanzierung der sozialen Infrastruktur: Wer trägt die Kosten für Kindergärten, Altenhilfe oder Gemeindezentren, wenn kirchliche Träger weiterhin eine große Rolle spielen, aber Ressourcen schwinden? Im aktuellen Diskurs werde Daseinsvorsorge selten in Verbindung mit Kirche gedacht, obwohl gerade hier ein zentraler Hebel für regionale Stabilität liege.
Offene Diskussion – Was hält die Region zusammen?
In der offenen Runde zwischen den Gästen wurden verschiedene Ebenen miteinander verknüpft:Daseinsvorsorge, Ernährungssysteme, Infrastrukturen, Verwaltung, Glaube, Planung, Bürgerenergie.Reinartz betonte, wie wichtig der direkte Bezug ist: Lebensmittel sind ein unmittelbarer Einstieg, um die abstrakten Themen der Versorgung verständlich zu machen.Solidarität findet nicht nur zwischen Produzent:innen und Verbraucher:innen statt, sondern zwischen allen, die Verantwortung teilen.Lenk verwies auf die Bedeutung großer Abnehmer: Bis zu 80 % der Ernährung vieler Beschäftigter laufe über Betriebsrestaurants. Wer Veränderung will, muss die großen Player einbeziehen – Kantinen, Unternehmen, kommunale Einrichtungen. Gleichzeitig, so Lenk, leben wir „auf Kosten der Erde“ – eine Problematik, der nur mit Zirkularität zu begegnen ist.Reinartz ergänzte, dass Kooperationen mit Großküchen oft sinnvoll, aber nicht ohne Mehrarbeit und technische Anpassungen seien (z. B. Verarbeitungstechnik für große Mengen).
Landschaftsarchitektur – Drei Dimensionen der Region
Hannes Bäuerle (AKBW) fasste die Diskussion aus planerischer Sicht zusammen:Region braucht immer drei Perspektiven:
Nur im Zusammenspiel dieser drei Dimensionen entsteht eine tragfähige regionale Entwicklung. Er formulierte es als Frage der Vernetzung und der gemeinsamen Zielbilder:
Was ist unser Sehnsuchtsbild der Region?
Impulse aus dem Publikum
Aus dem Publikum kamen Impulse, die die regionale Perspektive deutlich erweiterten. Mehrere Beiträge verwiesen auf die Europäische Union als Vorbild für gelebte Solidarität und als Referenz für übertragbare Mechanismen regionaler Zusammenarbeit. Gleichzeitig wurde sichtbar, wie schwer sich regionale Zusammenhänge im Alltag vermitteln lassen – insbesondere im ländlichen Raum, wo die Region Stuttgart häufig als abstraktes Konstrukt wahrgenommen wird.
Die Rolle der Kirche wurde ebenfalls angesprochen – als kulturelle Mitte, die Begegnung und Mehrfachnutzung ermöglicht, aber bislang selten strategisch mit Kommunen zusammengedacht wird. Einzelne Beiträge betonten, dass ein Bild der solidarischen Region bereits existiert; es fehle jedoch an praktischen Formen der Zusammenarbeit und an langfristigen Strategien. Beispiele wie Heilbronn zeigen, dass tiefgreifende Veränderungen Jahrzehnte benötigen (zum Beispiel die BUGA 2019 und European Green Capital 2027).
Schließlich wurde die Bedeutung der Wirtschaft hervorgehoben: Unternehmer:innen können regionale Verantwortung anders ausfüllen als klassisches Management. Formate wie die BUGA wurden als Instrumente gesehen, um solche Akteure zusammenzubringen und gemeinsame Projekte in der Region zu verankern.
Schlussrunde – Ein gemeinsames Bild der Region
Zum Ende des Abends wurde deutlich:Die Region braucht ein gemeinsames Zukunftsbild, das sich erst langsam abzeichnet.Es braucht Bottom-up-Prozesse, mehr Mut zur Kooperation, das Überwinden administrativer Grenzen – und eine klare Frage:
Wie gestalten wir eine lebenswerte Region für alle?
Das Podium sah die Region Stuttgart als ein „freies Radikal“ – ein Ort voller Potenziale, voller Widersprüche und voller Chancen. Damit diese Chancen genutzt werden, braucht es Menschen, die handeln – in Landwirtschaft, Industrie, Kirche, Planung, Kultur und Zivilgesellschaft.
Wir freuen uns, folgende Gäste begrüßen zu dürfen:Stephan Karle | Recycling UnternehmerJulia Kovar | Klimaschutzstiftung Baden-WürttembergTimo Billhöfer | KI-ExperteSusanne Dürr | Professorin für Architektur und Bauwesen, Landesvorstand AKBW
mit Moderator Christian Holl
Wenn Sie sich für unsere Veranstaltungsreihe der Macher:innengespräche interessieren, finden Sie hier weitere Informationen.
Agency bezeichnet in der Sozialwissenschaft die Handlungsfähigkeit von Individuen oder Kollektiven.Nach Anthony Giddens entsteht Handlung immer im Wechselspiel mit Strukturen:Strukturen ermöglichen Handeln – und werden durch Handeln gleichzeitig verändert.
Übertragen auf Architektur bedeutet das:Räume, Gebäude und Infrastrukturen sind nicht neutral.Sie handeln, indem sie Verhalten prägen, Begegnungen ermöglichen oder verhindern, Machtstrukturen reproduzieren oder aufbrechen.
In Diskursen der Stadt- und Regionalentwicklung wird Agency zunehmend genutzt, um zu fragen:Wer oder was handelt – und wer sollte handeln können?Nicht nur Menschen, sondern auch Institutionen, Materialitäten, Netzwerke, Orte.
Damit wird deutlich:Regionale Entwicklung ist kein statischer Prozess, sondern eine Aushandlung zwischen vielen Akteuren, sichtbaren und unsichtbaren. Genau darin bestand die Kraft dieser Veranstaltung.