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"Stuttgart reißt sich ab" - dieser Titel einer Ausstellung gibt den Eindruck vieler Bürger wieder. Zugleich fühlen sich Investoren, Wohnungswirtschaft und Stadtverwaltung zu Unrecht an den Pranger gestellt. Wie konnte es dazu kommen?
Ausschlaggebend sind drei voneinander unabhängige Entwicklungen:
Unsere boomenden Region braucht dringend Wohnungen, Gewerbebauten und vieles mehr. Freie Landschaft wollen wir dafür keine opfern. Nachverdichtung finden wir gut - aber nicht in der eigenen Nachbarschaft. Kommt ein Grundstück auf den Markt wird deshalb versucht, die maximal Mögliche Bebauung zu realisieren. Viele innerstädtische Gebäude werden heute nur erhalten weil nach aktuellem Baurecht weniger Nutzfläche realisiert werden dürfte, als zur Bauzeit erlaubt war. Der Bauherrenwunsch nach Abriss der preisgekrönten EnBW-Bauten an der Kronenstraße und die aktuelle Chance, Teile davon doch noch zu erhalten, zeigen das beispielhaft.
Um die Energiewende zu schaffen, haben wir die Anforderungen an Wärmedämmung und Anlagentechnik in immer kürzeren Abständen hochgeschraubt. Auch für sichere, gesunde und barrierefreie Wohnungen heben wir die Standards ständig an. Nichts von Dem, was vor 20, 50 oder 100 Jahren gebaut wurde, entspricht aktuellen Normen und Regelwerken. Jede zusätzliche Vorschrift ist aber ein Grund mehr, Bestandsgebäude abzureißen, um sie durch "zeitgemäße" Neubauten zu ersetzen.
Hinzu kommt: Bauinvestitionen sind teuer und müssen vorfinanziert werden. Investoren und Kreditgeber erwarten frühe Kostensicherheit. Den Abbruch von Bestandsbauten und die Neubebauung mit bekannten Gebäudetypen können Immobilienwirte kalkulieren, bevor mit der architektonischer Planung überhaupt begonnen wurde. Individuelle Häuser, die auf die Besonderheiten eines Ortes eingehen oder gar vorhandene Bausubstanz einbeziehen, benötigen dagegen intensiven planerischen Vorlauf. Der braucht Zeit, kostet Geld - und es bleiben dennoch finanzielle Risiken. Es liegt auf der Hand, welchen Weg Bauherren in der Regel bevorzugen.
Auf diese Weise entstehen Monostrukturen aus immer gleichen, kurzfristig vermarktbaren Wohnungs- und Gebäudetypen. Ortsbezug, Vielfalt und Innovation bleiben auf der Strecke. Wie bei den Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre müssten diese Stadtgebiete in einigen Jahrzehnten mit immensem Aufwand vor dem sozialen Absturz bewahrt werden - auf Kosten der Allgemeinheit.
Es ist die Aufgabe der Öffentlichkeit und ihrer Vertreter in Politik und Verwaltung, einer solchen Entwicklung vorzubeugen. Das allzu einfache Geschäftsmodell Abriss und Neubau muss an Attraktivität verlieren. Die Qualität jedes einzelnen Projektes, seine Gestalt, sein Umgang mit den Besonderheiten des Ortes, den vorhandenen Ressourcen und den künftigen Nutzern müssen ins Zentrum rücken. Nur so können wir für unsere vielfältigen, kleinteiligen und sozial durchmischten europäischen Städte die Zukunft gewinnen.
Der verantwortungsvolle Umgang mit der Ressource Stadt setzt auf Seiten der öffentlichen Verwaltung die Bereitschaft und die personelle Ausstattung zur individuellen Begleitung jedes einzelnen Bauvorhabens voraus. Sie muss Baurecht und Anwendung von Normen elastisch handhaben und das gemeinsame Anliegen einer funktionierenden Stadt gegenüber Partikularinteressen von Nachbarn und Anwohnern verteidigen. Das erfordert Mut und Kompetenz.
Allgemeine Sonderabschreibungen und die pauschale Förderung bestimmter Maßnahmen wie z. B. Wärmedämmung, sind nicht steuerbar und führen oft zu Fehlanreizen. Subventionen sollten stattdessen grundsätzlich an Qualitätskriterien gebunden werden. Planungsleistungen, die zur Weiterentwicklung vorhandener Bausubstanz beitragen, sollten ebenfalls gefördert werden.
Eine vorausschauende Stadtplanung muss stets im Auge haben, wo künftig Begehrlichkeiten und Handlungsbedarf entstehen und dafür schon im Vorfeld Ideen und Strategien entwickeln. Gebäude und Ensembles, die stadtbildprägend sind, mit denen sich die Bewohner eines Quartiers identifizieren oder die eine Bedeutung als historische Erinnerungsorte haben, müssen erkannt, definiert und besonders geschützt werden. Dabei sind Bürger, Fachöffentlichkeit und Verwaltung gleichermaßen gefordert.
Das Engagement, mit dem die Debatten über Bauprojekte und Abrissvorhaben in Stuttgart inzwischen geführt werden, zeigt, dass in der Stadtgesellschaft das Bewusstsein für die skizzierten Zusammenhänge wächst. Wie ernsthaft sich auch die Bauverwaltung inzwischen mit dem Thema auseinandersetzt, erkennt man an Projekten und Beteiligungsverfahren vom Olgäle-Areal bis zur Villa Berg und dem Eiermann-Campus, oder an den aktuellen Bemühungen um die ehemaligen EnBW-Gebäude. Die beschlossene Einrichtung eines hochkarätig besetzten Gestaltungsbeirats wird die Debatten sicher zusätzlich befruchten und strukturieren. Stuttgart reißt sich wohl doch nicht komplett ab.
In der Hitze aller Auseinandersetzungen um Abriss oder Erhaltung sollten wir Eines nicht vergessen: Städte haben sich zu allen Zeiten verändert und sind niemals fertig gebaut. Die Altstädte, in die wir so gerne pilgern, bestehen größtenteils aus Häusern der dritten und vierten Generation. Die älteste Hauszeile Deutschlands steht in Esslingen und wurde um 1330 gebaut. Esslingen war damals schon mehr als 500 Jahre alt.
Ziel jeder Baumaßnahme, ob Instandhaltung, Modernisierung oder Neubau, ist es doch, eine bestehende Situation zu verbessern - und zwar möglichst nicht nur für den Bauherrn, sondern auch für die Allgemeinheit. In diesem Sinne nachhaltiges Bauen gelingt dann, wenn alle Beteiligten, Architekten, Bauherren, Verwaltung und Öffentlichkeit, ihre jeweiligen Rollen wirklich ausfüllen und wenn sie sich dabei nicht als Gegner verstehen, sondern als Partner mit einem gemeinsamen Ziel. Die Zukunft unserer Stadt entscheidet sich nicht daran, ob ein Gebäude erhalten bleibt oder durch etwas Neues ersetzt wird. Entscheidend ist, dass es gut wird!
31. Oktober 2016
Thomas Herrmann Freier Architekt Sprecher der FÜNF Stuttgarter Kammergruppen in der Architektenkammer Baden-Württemberg
Dipl.-Ing. Thomas Herrmann, Freier Architekt
Dipl.-Ing. (FH) Andreas KlingelhöferFreier Architekt